Edge Cloud 4 Production: IT-basierte Fabrikautomation geht in Serie
Bereits seit Juli 2022 testet Audi in den Böllinger Höfen die lokale Serverlösung Edge Cloud 4 Production (EC4P) – eine neue Methode der IT-basierten Fabrikautomation. Ab Juli 2023 kommt der Paradigmenwechsel in der Shopfloor-IT erstmals in der Serienproduktion zum Einsatz. Dann steuert in den Böllinger Höfen ein lokales Servercluster die Werkerführung an zwei Takten der Produktion der Modelle Audi e-tron GT quattro, RS e-tron GT und Audi R8.
09.08.2023
Künftig soll die softwaregesteuerte, flexible und skalierbare Serverlösung die dezentrale Steuerung über wartungsintensive Industrie-PCs ablösen. Mit EC4P verlagert Audi die an der Linie notwendigen Rechenleistungen in lokale Rechenzentren. Neben dem Ersteinsatz in der Serie entwickelt Audi parallel im Audi Production Lab (P-Lab) EC4P für zusätzliche Anwendungsfälle weiter.
EC4P verwendet lokale Server. Diese dienen als Datenverarbeitungszentren. Sie können umfangreiche Informationen für die Fertigung mit geringer Latenzzeit verarbeiten und auf die Werkerführungen verteilen, die den Mitarbeitenden jeweils anzeigen, welches Teil im Fahrzeug verbaut werden muss. Die Arbeit von teuren und wartungsintensiven Industrie-PCs wird damit überflüssig.
„Software statt Hardware lautet unsere Devise“, sagen Sven Müller und Philip Saalmann, Leiter und Co-Leiter des 20-köpfigen EC4P-Projektteams. „EC4P ermöglicht eine schnelle Einführung von Software und neuen Tools, sei es für die Werkerführung, Schraubsteuerung, Fahrzeugdiagnose, vorausschauende Wartung oder Energieeinsparung“, sagt Müller. Zudem schließt EC4P mit dem Verzicht auf Industrie-PCs an der Linie potenzielle Einfallstore für Schadsoftware. Jörg Spindler, Leiter Fertigungsplanung und Produktionstechnik bei Audi, betont die Möglichkeiten der EC4P: „Wir wollen die lokale Cloud für die Produktion in die Werke bringen und dabei Fortschritte bei digitalen Steuerungssystemen nutzen.“
Die Serverlösung ermöglicht es, Auslastungsspitzen über die Gesamtzahl virtualisierter Clients für eine schnellere Anwendungsbereitstellung auszugleichen – und so Ressourcen effizienter zu nutzen. Die Produktion spart vor allem bei Software-Rollouts, Betriebssystemwechseln und IT-relevanten Aufwänden. Die Cloudtechnologie lässt sich zudem skalieren und so flexibel an zukünftige Aufgabenstellungen anpassen. „Was wir hier machen, ist eine Revolution“, hatte Gerd Walker, Vorstand Produktion und Logistik der AUDI AG, zum Start der ersten Erprobungsphase erklärt. „Die nun erste Anwendung in der Serienproduktion der Böllinger Höfe ist der entscheidende Schritt zu einer IT-basierten Produktion.“
Start in der Serienproduktion im Juli 2023
Im Juli 2023 wird EC4P nach Testbetrieb und Vortests in die Serienproduktion integriert. „Die in den Böllinger Höfen gefertigten Kleinserien eignen sich besonders, um die Steuerung über die EC4P zu testen und für die Großserie zu erproben“, sagt Saalmann. In der taktgebundenen Fertigung ist Audi der erste Automobilhersteller, der eine zentrale Serverlösung mit einer Verlagerung der Rechenleistung einsetzt. An den Takten 18 und 19 der Produktion in den Böllinger Höfen, wo Innenverkleidungen verbaut und Tätigkeiten am Unterboden durchgeführt werden, stehen Power-over-Ethernet-fähige Thin Clients, die per Netzwerkkabel mit Strom versorgt werden und ihre Daten über die lokalen Server beziehen. Bis Ende des Jahres sollen die Werkerführungen aller 36 Takte auf die serverbasierte Lösung umgestellt sein. Die Architektur der Servercluster ist so ausgelegt, dass eine rasche Skalierung von EC4P in der Großserie umgesetzt werden kann. „Mit der EC4P verschmelzen wir die Bereiche Automatisierungstechnik und IT, um das Internet of Things in der Praxis voranzubringen“, sagt Projektleiter Müller. „Daraus ergeben sich gleichzeitig neue Rollen an der Schnittstelle von Produktion und IT für Mitarbeitende, die so beispielsweise mit neuen Applikationen in die Automatisierungstechnik eingreifen. Zu diesem Zweck bauen wir ein Betriebsteam mit übergreifendem Fachwissen auf, das rund um die Uhr die EC4P betreut und überwacht.“ Es steht im engen Austausch mit den Mitarbeitenden an der Linie.
Die digitale Fabriktransformation als Lernfeld
Wie sich digitale Innovationen auf das Arbeitsumfeld auswirken, untersucht Audi im Rahmen der eigens initiierten Automotive Initiative 2025 (AI25) – unter anderem zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation. Die AI25 verfolgt dabei einen ganzheitlichen Ansatz und berücksichtigt Technologie, Mensch sowie Organisation und begleitet aktiv die fortschreitende Digitalisierung in der Produktion.
„Wir arbeiten im Team, um Ressourcen für neue Themen wie die Batterie- und Modulproduktion freizusetzen“, sagt Spindler. „Neue Technologien und Zusammenarbeitsmodelle erfordern dabei neue Fähigkeiten von unseren Teams. Daher spielt die Qualifizierung unserer Mitarbeitenden eine wichtige Rolle. Wir betrachten die Böllinger Höfe mit den längeren Taktzeiten als Lernfeld, das wir brauchen, um die IT-basierte Fabrikautomation später auf größere Standorte wie Ingolstadt und Neckarsulm ausrollen zu können.“
Einer der ersten Anwendungsfälle ist die Steuerung der elektrischen Inbetriebnahme an den deutschen Standorten. Nachdem sich EC4P in der Montage bewährt hat, soll die Serverlösung in einem weiteren konkreten Schritt die bislang hardwarebasierte speicherprogrammierbare Steuerung (SPS) in den Automatisierungszellen im Karosseriebau übernehmen und überwachen. Gemeinsam mit drei Herstellern entwickelt und erprobt das Projektteam derzeit im Projekthaus EC4P in Ingolstadt die dafür nötige Software.