(Un)Ehrlich währt am längsten
„Das Schöne am Steuernzahlen: es macht nicht süchtig”, lautet eine deutsche Volksweisheit. Warum das so ist, beantwortet Prof. Dr. Kirchler von der Universität Wien im zweiten Teil unserer Interviewreihe über Steuermoral. Der Psychologe definiert den Begriff genauer und untersucht gesellschaftliche Muster, die uns (un)ehrlich handeln lassen.
04.06.2018
UmweltDialog: Wir reden über den Faktor Moral und Ethik. Wie untersuchen und definieren Sie eigentlich „Steuermoral“?
Prof. Dr. Erich Kirchler: Steuermoral ist die Einstellung von Steuerpflichtigen zu Steuern und zu Steuerdelikten. Bereits 1927 schrieb Otto Veit, Steuermoral sei die gewissenhafte Erfüllung der Steuerpflicht, welche „als absolutes, immanentes Ingredienz des staatsbürgerlichen Pflichtenkomplexes” erscheint.
Die Steuermoral hängt von vielen soziodemografischen Faktoren, Persönlichkeitsmerkmalen und der Wahrnehmung und Interpretation der Steuergerechtigkeit und den sozialen Normen ab. Beispielsweise scheint die Steuermoral mit dem Alter zu steigen; Frauen haben häufig höhere Werte in Fragebögen als Männer. Religion und persönliche Normen, Gewissenhaftigkeit und geringe Machiavellismus-Ausprägungen spielen eine Rolle. Vertrauen in staatliche Autoritäten und die Wahrnehmung legitimer und professioneller Machtausübung sind ebenfalls hohen Moralvorstellungen förderlich und stehen damit in positivem Zusammenhang mit Steuerehrlichkeit.
Mit dem Begriff „Moral“ tut sich die klassische Wirtschaftswissenschaft schwer. Das schiebt man eher in Richtung Philosophie oder Theologie. Jetzt funktionieren aber die meisten Unternehmen nach streng wirtschaftlicher Logik. Warum hat das Bild des Menschen als rein rationales Wesen bis heute so vehement gehalten?
Kirchler: Das neo-klassische Modell des homo oeconomicus geht von Nutzenmaximierung und Rationalität aus. Die Annahmen sind klar und die darauf aufbauenden ökonomischen Modelle beeindruckend sophistisch. Allerdings zeigt die Sozialpsychologie, Wirtschaftspsychologie und Verhaltensökonomie, dass Rationalität als Verhaltensgrundprinzip nicht zu halten ist. In komplexen Entscheidungen unter Unsicherheit fehlt oft die Zeit, die Motivation und die kognitive Kapazität, um rationale Entscheidungen treffen zu können. Daniel Kahneman und Amos Tversky zeigen, dass es viele „Abkürzungen“ in Entscheidungen gibt, Heuristiken, die zu Verzerrungen (biases) führen, wie die Formulierung einer Aufgabe zu unterschiedlichem Verhalten führt und dass das Verhalten in Gewinn- und Verlustsituationen nicht symmetrisch ist. Gert Gigerenzer hält Heuristiken für vernünftig und meint, dass sie häufig zu guten Entscheidungen führen und der Druck zu vollkommener Rationalität gar nicht sinnvoll ist.
Der Einfluss der Verhaltensökonomie wird immer stärker. Nudging als Verhaltensregulation erfreut sich hohen Zuspruchs in der Politik und den Ministerien. Trotzdem beherrschen die Annahmen der Nutzenmaximierung und Rationalität weite Gebiete der Ökonomie, weil die Annahmen klar sind und sich darauf klare Modelle aufbauen lassen. Zudem ist es schwierig, eingeschworene Vertreter bezüglich der einmal einstudierten Annahmen zu verunsichern und zu einer Neuorientierung zu bewegen. Sie können ja auch kontern und betonen, dass sie durchaus annehmen, dass ein Individuum irrational oder a-rational handeln kann, aber annehmen, dass sich alles nicht Rationale im gesellschaftlichen Aggregationsprozess herausmittelt und dass das im „aggregierten Handeln“ übrigbleibt, was Nutzenmaximierung und Rationalität ausmacht.
Gibt es so etwas wie erkennbare Muster, die Menschen eher zu ehrlichen Steuerzahlern oder eher zu Steuerhinterziehern machen?
Kirchler: Außer persönlichen Normen und Persönlichkeitsmerkmalen spielt das Interaktionsklima zwischen Autoritäten und Bürgern eine entscheidende Rolle dafür, ob die Steuermoral und –ehrlichkeit im Lande hoch oder niedrig sind. Die Beziehung zwischen Steuerbehörde und Steuerzahlern bestimmt das Steuerklima, welches auf einem Kontinuum von antagonistischem zu synergistischem Klima beschrieben werden kann. Herrscht ein antagonistisches Klima („Räuber und Gendarm“) vor, so arbeiten Steuerzahler und Steuerbehörde gegeneinander. Steuerzahler fühlen sich von der Behörde verfolgt, welche wiederum annimmt, dass die Bürger Möglichkeiten nutzen würden, Steuern zu umgehen oder zu hinterziehen. Herrscht hingegen ein synergistisches Klima („Service und Kunden“), vor, so teilen Steuerzahler und Behörde dieselben Ziele und kooperieren. Die Steuerbehörde agiert in transparenter Weise und wird von Steuerzahlern als Autorität akzeptiert, die Dienstleistungen für die Gemeinschaft verrichten.
Ausgehend vom antagonistischen oder synergistischen Klima werden im Slippery-Slope Rahmenmodell erzwungene und freiwillige Steuerehrlichkeit unterschieden. Freiwillige Steuerehrlichkeit resultiert aus dem Vertrauen in den Staat und in die Behörden. Fehlt das Vertrauen, so kann Steuerehrlichkeit auch erzwungen werden, sofern die Behörden über ausreichend Macht verfügen und durch effiziente Kontrollen und wirksame Strafen Steuerehrlichkeit erzwingen können. Geringe Steuerehrlichkeit ist dann zu erwarten, wenn Behörden die Mittel fehlen, Steuerzahler durch abschreckende Maßnahmen zur Ehrlichkeit zu zwingen und die Bürger gleichzeitig den Behörden und dem Staat gegenüber misstrauisch sind.
Die Sichtweise der Steuerbehörde bezüglich der Intentionen und des Verhaltens von Steuerzahlern sowie der Interaktionsstil sind von zentraler Bedeutung für die Wirksamkeit von Kontrollen und Strafen. Ein Klima, das von Misstrauen geprägt ist, wo die Behörde von der Annahme ausgeht, dass Steuerzahler nicht willig sind, ihre Abgaben zu entrichten und zu „jagen“ sind, verstärkt die Anstrengungen von Steuerzahlern, zu überlegen, unter welchen Bedingungen ihr egoistischer Nutzen erhöht werden kann. Warum sollten in einer Misstrauenskultur Steuerzahler freiwillig kooperieren? Ein Vertrauensklima hingegen, wo Behörden ihre Aufgabe darin sehen, Serviceeinrichtung für ihre Kunden zu sein, dürfte die freiwillige Kooperation fördern, wobei nicht abgewogen wird, unter welchen Bedingungen der eigene Nutzen am höchsten ist.
Die Forderung, eine „Service-Kunden-Orientierung“ einzunehmen und Steuerzahler zu unterstützen, anstatt mit Kontrollen und Strafen zu Steuerehrlichkeit zu zwingen, bedeutet nicht, dass eine „Glacee-Handschuh-Politik“ betrieben werden muss. Zwischen Steuerzahlern muss differenziert werden: Wenn Steuerzahler nicht bereit sind zu kooperieren und Steuern wiederholt nicht korrekt abführen, dann sind Strafen bis zum Entzug einer Gewerbeberechtigung durchaus notwendig. Kontrollen und Strafen müssen aber zielgerichtet auf hoch riskante Gruppen angewandt werden und nicht willkürlich erfolgen und somit kooperationswilligen Steuerzahlern Misstrauen signalisieren. Kontrollen und Strafen von nicht-kooperativem Verhalten sind auch deshalb notwendig, weil eine Minorität von nicht-kooperativen Bürgern durchaus ein System der Kooperation zum Kippen bringen kann, wenn ehrliche Steuerzahler erleben, dass einige Personen von egoistischen Verhaltensweisen profitieren und nicht durch Regeln und Normen zu Kooperation angehalten werden.
Zwischen Macht und Vertrauen
In der Abbildung sind die ausgeführten Überlegungen dargestellt. Steuerehrlichkeit hängt danach zum einen von der Macht des Staates, Steuerehrlichkeit zu erzwingen und zum anderen vom Vertrauen der Bürger in den Staat und die Steuerbehörden ab. Geringe Steuerehrlichkeit ist dann zu erwarten, wenn die Macht des Staates zu effektiven Kontrollen gering ist und wenn Misstrauen vorherrscht. Erzwungene Steuerehrlichkeit resultiert dann, wenn das Vertrauensklima ungünstig ist, aber der Staat die Macht besitzt das Verhalten der Steuerzahler zu bestimmen. Freiwillige Kooperation ist in einem vertrauensvollen Klima zu erwarten, unabhängig von der Macht und den Mitteln, die der Steuerbehörde zur Verfügung stehen, Steuerzahler zu Ehrlichkeit zu zwingen.
Im abschließenden Teil des Interviews beschreibt Prof. Dr. Kirchler die Wirksamkeit von Kontroll- und Strafmaßnahmen und nimmt die Steuermoral von Unternehmen in den Blick. Den ersten Teil des Interviews, der eine Einführung in die Thematik bietet, finden Sie hier.