Wie wir der Welt der dummen Dinge entkommen können
Haben oder Sein? Das hat schon Erich Fromm gefragt. Vor allem kurz vor Weihnachten macht die Frage Jahr um Jahr besonders Sinn. Alexandra Hildebrandt geht in ihrem Essay deshalb der Frage nach: Wie gelingt uns die Rückkehr zum menschlichen Maß?
04.12.2019
Menschen hingen schon immer von den greifbaren Dingen ab, weil sie identitäts- und sinnstiftend sind. Was heute nottut, ist eine „allgemeine Wertschätzung des Vergnügens an einer tieferen und länger bestehenden Beziehung zu den Dingen“, schreibt Frank Trentmann, britischer Professor für Geschichte in seiner umfassenden „Warenbiografie“ der letzten 500 Jahre. Darin beschäftigt er sich nicht nur mit dem Ausmaß und den Folgen der globalen Arbeitsteilung, sondern auch mit Brillen, Uhren, Messern, Gabeln und zahlreichen Haushaltsgegenständen. Der Titel seiner Konsumgeschichte lautet „Herrschaft der Dinge“ (im englischen Original: „Empire of Things“). Trentmann fragt, wie es dazu kam, dass wir uns mit immer mehr Dingen umgeben. Er plädiert für mehr Bewusstheit der Menschen, die sich nicht nur als Konsumenten betrachten sollten, sondern auch als weitsichtige engagierte Bürger mit „historischer Vorstellungskraft“. Denn Dinge geben uns unsere Geschichte(n) zurück. Ein Verzicht darauf würde bedeuten, die eigenen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zu schwächen. Wer nachhaltig handelt, hat die Dinge und die Geschichten dahinter buchstäblich begriffen.
Geschichte und Geschichten helfen uns, klar in die Zukunft zu sehen und Geisteskraft für die Gegenwart zu sammeln, die immer komplexer wird. Umso wichtiger ist es, denkend und sinnstiftend zu sein. Friedrich Schumacher, Autor des Buches „Small is beautiful: Die Rückkehr zum menschlichen Maß“, verband dies bereits 1973 mit den schönen Dingen des Lebens. Sie beschäftigen uns heute deshalb so intensiv, weil durch den Einfluss der digitalen Informationstechnik viele Aspekte unseres Lebens nicht mehr überblickt werden können. Wir haben das Gefühl, dass wir buchstäblich vieles nicht mehr im Griff haben und uns fremdbestimmt fühlen.
Der durchschnittliche Europäer besitzt etwa 10.000 Gegenstände. Die Frage ist, was uns davon wirklich etwas bedeutet, welche einen inneren (nicht nur finanziellen) Wert für uns haben. Claudia Silber, Leiterin der Unternehmenskommunikation bei der memo AG, sagt: „Nur ganz wenige! Die meisten gebrauchen wir, ohne darüber nachzudenken, und viele haben wir, ohne ihnen einen Wert beizumessen. Wenn ich nun überlege, welche meiner Dinge mir wirklich etwas Wert sind und an denen ich hänge, sind es nur ganz wenige.“ Da ist zum Beispiel der Leuchtturm aus Porzellan, der eigentlich nur ein teures Deko-Objekt ist und ihrer Ansicht nach viel zu schade ist, ihn zu „gebrauchen“. Auch wenn ihn andere Menschen vielleicht als „unnütz“ bezeichnen würden, so liegt er ihr deshalb so sehr am Herzen, weil er ein Abschiedsgeschenk ihres ehemaligen Chefs war. Die Nachhaltigkeitsexpertin achtet allerdings darauf, nicht zu viel „anzuhäufen“. Für sie nutzlose Dinge verschenkt sie oder verkauft sie. Neben den Gebrauchsgegenständen möchte sie vor allem nicht auf ihre Bücher verzichten: „Ich könnte einen Großteil davon auf einem E-Book-Reader speichern. Dann würden mir aber die Geschichten fehlen, die ich mit jedem meiner Bücher verbinde, und die Zeiten, in denen ich sie gelesen habe.“ Sie möchte nicht auf Dinge verzichten, die ihr etwas wert sind, weil schöne Momente oder Lebensphasen oder auch Menschen verbunden sind, die ihr am Herzen liegen. Greifbare Dingen haben für sie eine besondere Bedeutung, weil sie das Erklärbare, Bodenständige, Immobile braucht. Das gibt ihr Sicherheit, Halt und Schutz: „Wo das ‚Greifbare‘ ist, bin auch ich und mein zu Hause.“
Da sich Dinge greifen lassen, tragen sie auch dazu bei, die Welt im Kleinen zu begreifen. So hat der amerikanische Bestsellerautor John Irving eine seltsame Begeisterung für Papier, Stifte und Arbeitsrituale entwickelt. Es ist, „als könnte man den Ideen des Autors über sein Werkzeug irgendwie näherkommen als mit seinen Büchern“, bemerkt Thomas Pletzinger, der den Schreibtisch des Autors auf schönste Weise beschrieben hat: „In einem Marmeladenglas stehen Dutzende angespitzte Bleistifte, daneben Zwanzigerjahre-Postkarten aus Zermatt, Radiergummis, gelbe Notizblöcke, weißes Papier. All die kleinen Dinge des Lebens hängen mit der großen Geschichte zusammen. Sie helfen uns, unsere eigene Lebensgeschichte zu konstruieren und sind eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart.
In seiner Studie „Geliebte Dinge“ (1996) untersuchte der Frankfurter Psychologe Tilmann Habermas die Bedeutsamkeit von persönlichen Objekten für das Selbstverständnis eines Menschen und bemerkte, dass es häufig sogenannte autobiografische Souvenirs sind, „die den entscheidenden Wert in sich verkörpern". Das kann eine alte Geldbörse sein, ein Schmuckkästchen, ein Foto oder ein Buch. Der Begriff Nostalgie ist eine Kombination aus dem altgriechischen nóstos (Heimat) und álgos (Schmerz). Diese nostalgische Sehnsucht, sich zu verbinden, findet ihren Ausdruck in den Markttrends unserer Zeit. Sie steht im Mittelpunkt des Aufstiegs alles traditionell und handwerklich Gemachten. Das Thema Dinge beschäftigt uns heute deshalb verstärkt, weil wir vielfach (nicht zuletzt durch den Einfluss der digitalen Informationstechnik) die Kontrolle über viele Aspekte unseres Lebens verloren haben und das Gefühl verspüren, es nicht mehr im Griff zu haben. Das wird von vielen Menschen Fremdbestimmung erlebt.
„Würde nicht so viel Überflüssiges gekauft, das uns abhängig, aber nicht glücklich macht, dann stünde es besser um die Welt!“, schreibt der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer, einer der ersten Kritiker der Konsumgesellschaft aus ökologisch-psychologischer Sicht. Handwerklich hergestellte Produkte und die Verwendung traditioneller Materialien sind für ihn ein wertvolles Kulturgut, denn sie stellen eine nachhaltige Alternative zur Welt der Massenprodukte und zum schnellen Konsum dar. Er spricht von „klugen“ und „dummen“ Dingen, wobei sich letztlich ausgerechnet jene Dinge als „dumm“ erweisen, in die sehr viel Intelligenz investiert wurde, dass sie die Benutzerinnen und Benutzer aufgrund ihrer Unzugänglichkeit „verdummen“ lassen. Flugtaugliche Kugelschreiber gehören für Schmidbauer beispielsweise zu den dummen Dingen, weil sie teuer sind, zudem verlässt sich die Massenware auf die Schwerkraft und „versagt entsprechend schnell und radikal“. Wer heute ausschließlich in die Automatik vertraut, lässt wichtige Fähigkeiten verkümmern, weil die geistige Auseinandersetzung mit den Dingen nicht mehr stattfindet.