Das System ist immer stärker als der Einzelne
Katharina Weghmann von EY ist Spezialistin auf dem Gebiet des menschlichen Verhaltens. Dieses Wissen nutzt sie, um Integritätsmanagement in Betrieben nach vorne zu bringen. Warum das wichtig ist? Weil Compliance-Regeln alleine nicht ausreichen, um ethisches Unternehmenshandeln zu sichern, sagt sie im Interview mit UmweltDialog.
16.11.2018
UmweltDialog: Frau Weghmann, „Make Ethics great again!“ lautet Ihr Slogan für Ihre Arbeit. Ist der Wirtschaft die Ethik abhandengekommen?
Katharina Weghmann: Nein, das denke ich nicht. Das Thema Ethik und Wirtschaft erlebt vielmehr eine Art Renaissance durch Konzepte wie den „Ehrbaren Kaufmann.“ Auch berichten die Medien vermehrt über Unternehmensskandale. Das ist gut, weil wir so über Missstände in der Wirtschaft erfahren. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass viele Firmen integer handeln.
Zwischen Ethik und Wirtschaft gab es schon immer einen Zusammenhang. So vertritt beispielsweise der Philosoph Adam Smith – den viele mit anderen Ansichten verbinden – in seinem Werk „die Theorie der ethischen Gefühle“ die Ansicht, dass das Mitgefühl der Menschen untereinander die Grundlage der Moral und die Triebfeder menschlichen Arbeitens ist. Dabei ist der zwischenmenschliche Umgang ein sozialer Vertrag, auf den wir uns immer wieder besinnen müssen.
Die Begriffe Compliance und Integritätsmanagement werden gerne synonym verwendet. Was ist der Unterschied?
Weghmann: Der Begriff Compliance bezieht sich auf Gesetze, die ein Unternehmen befolgen muss. Dabei wird innerhalb der Organisation ein robustes Compliance Managementsystem implementiert, das den Betrieben die effektive und effiziente Einhaltung von formellen Regeln ermöglicht. Integrität dagegen bezieht sich eher auf eigene Standards, die Betriebe in ihrer Unternehmenskultur operationalisieren. Hierzu gehören Dinge wie Ethik, Toleranz, Team-Work, Qualität etc.. Integrität kann auch selbst zu einem Wert werden, den Unternehmen leben.
Integritätsmanagement bezieht sich auch auf die Maßnahmen, die ethisches Verhalten der Mitarbeiter fördern und vor allem zu einer einfachen Sache machen, Stichwort: Moral Activation. Hierbei sollten Kenntnisse von Disziplinen wie Verhaltensökonomie, Erwachsenenbildung oder Psychologie genutzt werden, weil sie uns helfen das menschliche Verhalten zu verstehen.
Ob Autoindustrie, Finanzwesen, Fifa oder die Filmindustrie: Innerhalb bestimmter Sektoren scheint unethisches, teilweise kriminelles Verhalten systemimmanent. Ist das so?
Weghmann: Ich würde das nicht über einen Kamm scheren. Nicht alle Organisationen in einem Sektor sind schlecht. Manche Branchen sind in den Medien auch präsenter als andere, was den Anschein eines generellen sektoralen Versagens erwecken kann. Wenn wir über Regelverstöße in Industriezweigen sprechen, müssen wir uns zunächst die Frage stellen, ob von den Regulatoren überhaupt Compliance-Standards in den Sektor gepusht werden, die eine systemische Veränderung ermöglichen. Des Weiteren: Üben beispielsweise in der Sportindustrie Sponsoren, Landesvertreter, NGOs oder Fans genügend Druck auf den Sektor aus, sodass formelle Regeln implementiert werden müssen?
Das beste Compliance System der Welt ist völlig nutzlos, solange die Unternehmenskultur ethisches Verhalten nicht fördert.
In der Sportbranche wird beispielweise gerade der erste unabhängige Standard entwickelt, nach denen sich Unternehmen zertifizieren lassen können. Dieser Standard misst, wie integer und regelkonform sich die Betriebe in der Sportindustrie verhalten. Das wird sich positiv auf den gesamten Sektor auswirken.
Die Dieselaffäre und weitere jüngere Betrugsfälle in der Wirtschaft konnten trotz großer Compliance-Abteilungen der jeweiligen Unternehmen passieren. Was ist schief gelaufen?
Weghmann: Formelle Compliance-Kriterien zu erfüllen, reicht alleine nicht aus, um ethisches Verhalten von Organisationen zu fördern. Dazu benötigen Unternehmen außerdem die informellen Integritätssysteme. Entscheidend ist dabei auch, welche Unternehmenskultur vorherrscht. Ein System von kurzfristigen Incentives, die nur auf Gewinn abzielen, strikte hierarchische Strukturen, die keine Fehler der Mitarbeiter dulden und einen extremen Druck auf die Angestellten ausüben, können unethisches Handeln begünstigen. Mitarbeiter merken nämlich sehr schnell, welches Handeln der sozialen Norm entspricht und von Verantwortlichen belohnt oder sanktioniert wird.
Peter Drucker hat mal gesagt: „Culture eats strategy for breakfast“. Genauso verhält es sich mit Integrität und Compliance, denn die informellen Systeme werden die formellen immer übertrumpfen. Das beste Compliance System der Welt ist völlig nutzlos, solange die Unternehmenskultur ethisches Verhalten nicht fördert und einfach macht. Der Spruch „This is how we do things around here“, spiegelt das gut wider.
Beugen sich Angestellte also der vorgelebten Unternehmenskultur?
Weghmann: Im Grunde ja. Menschliches Verhalten setzt sich aus den eigenen Werten in Dynamik mit dem Umfeld zusammen. Insofern formen Unternehmen und Systeme immer das Verhalten der Angestellten. Das haben viele Verantwortliche nicht auf dem Schirm, weil sie nicht wissen, wie menschliches Verhalten entsteht. Zählt beispielweise nur der Umsatz der Mitarbeiter und sind Anreizsysteme dazu ausschließlich auf Kurzfristigkeit ausgerichtet, fördern Verantwortliche eine Kultur der „Ethical Blindness“. Wenn das Gehirn auf ein bestimmtes Ziel getrimmt wird, können ethische Komponenten schnell ignoriert werden. Dann geht es darum, dass Geschäfte um jeden Preis zustande kommen. Die Art und Weise ist egal.
Die jüngsten Ereignisse in der Wirtschaft zeigen außerdem, wie wichtig es ist, offene Dialog- und Feedback-Kulturen in Unternehmen zu etablieren. Denn Probleme können früh erkannt und vermieden werden, wenn das informelle System eine offene Kommunikation ermöglicht. Es geht nämlich nicht darum, dass es in Unternehmen keine negativen Vorfälle geben darf, sondern um den Umgang damit.
Die Politik ist nicht viel besser: In Frankreich etwa schieben sich Freunde im öffentlichen Dienst gegenseitig die Posten zu, Erdogan ernennt seinen Schwiegersohn zum Finanzminister, und Trump stellt seine Tochter und seinen Schwiegersohn als Berater ein. Wenn in der Politik die Vetternwirtschaft floriert, warum sollen Unternehmen dennoch integer handeln?
Weghmann: Der öffentliche und der private Sektor sind natürlich ganz eng miteinander verknüpft und bedingen sich gegenseitig. Nichtsdestotrotz haben viele Unternehmen verstanden, dass sich Integrität langfristig positiv auswirkt und wirtschaftliche Vorteile bringt. Dazu gehören eine bessere Reputation sowie gesteigertes Vertrauen der Konsumenten. Immer mehr Verbraucher legen Wert auf Umweltstandards, eine faire Bezahlung oder gute Arbeitsbedingungen in der Produktion.
Trotz bestimmter regressiver politischer Entwicklungen wird Integrität immer mehr zu einer Währung, die die Marktteilnehmer nutzen. Banken kreieren Portfolios, die sich aus der Performance nachhaltig wirtschaftender Unternehmen zusammensetzen, und Investoren machen ihre Entscheidungen davon abhängig, ob ein Unternehmen bestimmte Verantwortungskriterien erfüllt.
Unternehmen haben verstanden, dass sich Integrität langfristig positiv auswirkt und wirtschaftliche Vorteile bringt.
Unternehmen kooperieren aber auch mit Despoten und autokratischen Systemen, die beispielweise gegen Menschenrechte verstoßen. Wie passt das zusammen?
Weghmann: Überhaupt nicht. Das ist in höchstem Maße inkonsequent. Leider ist das ein Nebenprodukt der globalisierten Wirtschaft. Viele Unternehmen agieren nach folgender Logik: Wenn andere das machen, machen wir das auch. Auf diese Weise wird verantwortungsloses Wirtschaften zur sozialen Norm und damit legitimiert. Das ist nachvollziehbar, wollen Betriebe doch keine ökonomischen Nachteile im Wettbewerb haben. Genau wie Menschen orientieren sich auch Unternehmen am Handeln der anderen. Deswegen plädiere ich dafür, nicht über den Einzelfall zu sprechen. Vielmehr müssen Unternehmen und Stakeholder in fragwürdigen Bereichen, in denen es zu Umweltverstößen oder Menschenrechtsverletzungen kommt, gemeinsam nachhaltige Ökosysteme schaffen (Collective Action). Hier gelten dann für alle Markteilnehmer dieselben Standards und Regeln, die sie erfüllen bzw. befolgen müssen, was langfristig allen nutzt – vor allem den lokalen Märkten.
Wenn wir Unternehmen wegen Nachhaltigkeitsverstößen innerhalb des Wertschöpfungsprozesses kritisieren, müssen wir allerdings folgendes berücksichtigen: Globale Lieferketten sind weit verzweigt und häufig intransparent. So können Betriebe nach bestem Wissen und Gewissen Verträge mit Zulieferern nach vorherigen Due-Dillingens Prüfungen oder Auditierungsverfahren abschließen. Allerdings haben die Lieferanten ihrerseits wieder eigene Zuliefererketten, von denen die Unternehmen in Deutschland, Europa oder den USA nicht jedes Detail kennen.
Sie fordern in puncto Compliance mehr Humanismus und weniger Kontrolle. Damit teilen Sie eine optimistische Einstellung über die Persönlichkeitsentfaltung und Lernfähigkeit von Menschen. Gleichzeitig hat EY aber jüngst festgestellt, dass ein Viertel der deutschen Manager (Tendenz steigend) gegen Regeln verstoßen, wenn es der eigenen Karriere dienlich ist. Ein Widerspruch?
Weghmann: Nein, das ist kein Widerspruch, sondern zeigt das typische menschliche Spannungsfeld. Was wir sagen und was wir tun, ist oftmals nicht im Einklang miteinander. So möchten viele ethisch handeln, entscheiden sich dann aber aufgrund der vorgelebten Unternehmenskultur für einen anderen Weg. Das dürfen wir nicht verurteilen. Vielmehr müssen Unternehmen Strukturen schaffen, die es für die Mitarbeiter einfach machen, sich korrekt zu verhalten. Dabei unterstützen wir Unternehmen durch unseren datengetriebenen Integritätsmanagement-Ansatz.
Schaut man sich die Grundverteilung innerhalb der Population an, sind nur bis zu fünf Prozent der Menschen gewillt, sich zu bereichern; koste es, was es wolle. Sie verfügen über ein hohes Maß an krimineller Energie. Die große Mehrheit hingegen tickt glücklicherweise nicht so.
Bis zu 20 Prozent der Menschen machen immer das Richtige und handeln strikt ehrlich nach ihren aufrichtigen Prinzipien, auch wenn man ihnen die Möglichkeit zum Betrug gibt. Der Rest beugt sich den sozialen Normen. Das ist den Menschen aber gar nicht bewusst. Unsere Integritätsansätze in Kombination mit Compliance und Datenanalysen reduzieren hier das Unternehmensrisiko erheblich.
Wie gehen Sie nun genau bei Ihrer Arbeit vor?
Weghmann: Wir entwickeln gerade einen Standard nach wissenschaftlichen Kriterien, der die Integrität innerhalb der Unternehmen anhand unterschiedlicher Kernfelder evaluiert. Dazu gehört zum einen die formelle Reife der Governancestruktur – wie beispielweise das Compliance Management System – zum anderen aber auch die informelle Unternehmenskultur im Hinblick auf das Thema Ethik. Ersten Einblick in den Zustand einer Unternehmenskultur geben uns Informationen über die Mitarbeiterfluktuation, die -zufriedenheit oder auch Fälle, auf die über die interne Hotline aufmerksam gemacht wird.
Daten helfen uns, eine Kausalität von ökonomischem Wachstum und Integrität herzuleiten.
Außerdem fragen wir nach Motivierungs- und Incentivierungssystemen: Gibt es ausschließlich individuelle Mitarbeiterziele, die nur ökonomischen Erfolg berücksichtigen, oder gibt es kollektive Ziele, die durch Team-Work zu erreichen sind? Oder gibt es gar soziale sowie ökologische Zielvereinbarungen? Weitere Kennzahlen beziehen sich auf das generelle Leadershipverhalten, die Feedbackkultur oder die öffentlich zugängliche Kommunikation über ein Unternehmen, beispielsweise in den sozialen Medien. Durch die Erhebung und Analyse einer großen Landschaft an vorhandenen Daten innerhalb und außerhalb des Unternehmens, die weit über die Messung von Perzeption gehen, schaffen wir es mittlerweile, ein holistisches Bild von der Integritätskultur einer Organisation zu bekommen. Dadurch erfahren wir, wie ein Betrieb wahrgenommen wird, was seine Reputation ist und wie stark das Vertrauen in das Unternehmen ausgeprägt ist.
Wie messen Sie das?
Weghmann: Unsere Analysen sind stark Daten-getrieben und können die Integrität innerhalb des Unternehmens teilweise in Echtzeit abbilden. Die Daten helfen uns dabei, sogar Skeptikern etwa eine Kausalität von ökonomischem Wachstum und Integrität herzuleiten.
Gibt es so etwas wie einen Endpunkt, an dem man sagen kann: „Das Unternehmen handelt vollkommen integer“?
Weghmann: Wir wollen von diesem dualistischen „Anfangs- und Endpunkt“-Ansatz wegkommen. Natürlich können wir den Fortschritt und die Evolution einer Unternehmenskultur bezüglich Integrität messen. Aber unsere Arbeit will gerade das relativistische Denken fördern, das Unternehmenskultur als Prozess begreift, der niemals endet und sich ständig weiterentwickelt. Außerdem könnten wir uns lange darüber streiten, wie wir „vollkommen integer“ überhaupt definieren.
Vielen Dank für das Gespräch!